Tuckman Modell
- Christoph Klausing
- 16. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Nov.

Teamentwicklung ist ein klassisches Feld der Organisationspsychologie. Weniger bekannt ist jedoch, wie präzise sich typische Herausforderungen – Konflikte, Rollenunklarheit, Überlastung oder Leistungsabfall – durch bewährte Modelle erklären lassen. Das wohl einflussreichste Modell stammt von Bruce W. Tuckman, der 1965 in seinem Artikel “Developmental Sequence in Small Groups” (Psychological Bulletin, Vol. 63, No. 6) eine Phasenlogik für die Entwicklung von Gruppen formulierte: Forming, Storming, Norming, Performing. Dieses Modell wurde später (1977, gemeinsam mit Mary Ann Jensen) um die fünfte Phase Adjourning ergänzt, welche die Auflösungsphase beschreibt.
Tuckmans Modell hat in der Forschung breite Rezeption gefunden, wird weiterhin in der Organisationspsychologie genutzt und bietet trotz seiner Einfachheit einen zutreffenden heuristischen Rahmen, um typische Problemfelder in Teams zu erklären – unabhängig davon, ob es sich um Führungskräfte, Mitarbeitende oder Organisationen als Ganzes handelt.
1. Forming – Die Orientierungsphase: Unsicherheit als systemischer Normalzustand
In der Forming-Phase beginnt die Gruppe sich zu konstituieren. Die Mitglieder suchen Orientierung hinsichtlich Aufgaben, Strukturen, Rollen und Normen. Tuckman beschreibt diese Phase als gekennzeichnet durch „testing and dependence“.
Typische Risiken und Dysfunktionen
Für Führungskräfte:
Überlastung durch permanent notwendige Strukturgebung
unsichere Entscheidungswege, da Erwartungen nicht abgestimmt sind
hoher Moderationsaufwand
Für Mitarbeitende:
erhöhte soziale Vorsicht und Angst vor Fehltritten
kognitive Überlastung durch unklare Erwartungen
zurückhaltende Beteiligung aus fehlender Sicherheit
Für Organisationen:
ineffiziente Anlaufphasen
parallele Interpretationen von Aufgaben
instabile Prozesse, die später persistieren können
Forming-Probleme sind keine individuellen Schwächen, sondern systemische Spannungsfelder, die aus fehlender gemeinsamer Orientierung resultieren.
2. Storming – Die Aushandlungsphase: Konflikte als notwendiger Strukturierungsmechanismus
Tuckman beschreibt die zweite Phase als geprägt durch „intragroup conflict“.Diese Phase ist kein Fehler, sondern ein funktionaler Bestandteil der Teamentwicklung. Unterschiedliche Rollen, Interessen und Werte werden sichtbar und ausgehandelt.
Typische Risiken und Dysfunktionen
Für Führungskräfte:
Rollenkonflikte zwischen Steuerung und Deeskalation
unklare Autoritätsgrenzen
hoher Druck, Konflikte „auflösen“ zu müssen, obwohl sie strukturell notwendig sind
Für Mitarbeitende:
emotionale Belastung, da Divergenzen offen auftreten
erhöhte Anspannung und Stress, besonders bei konfliktaversen Personen
Risiko unproduktiver Konflikte, wenn Moderation fehlt
Für Organisationen:
temporäre Produktivitätsverluste
Gefahr der Bildung informeller Subgruppen („Cliquen“)
Eskalationsrisiken, wenn Konflikte nicht strukturiert bearbeitet werden
Storming wird problematisch, wenn Konflikte entweder unterdrückt oder ausgefochten werden, ohne sie strukturell zu klären.
3. Norming – Die Integrationsphase: Werte, Normen und Rollen als Stabilitätsanker
In dieser Phase stabilisieren sich Gruppen. Tuckman spricht von „development of group cohesion“. Regeln, Prozesse und Werte werden explizit oder implizit ausgehandelt.
Historisch ist an dieser Stelle wichtig:Tuckmans Modell wurde in einer wissenschaftlichen Tradition entwickelt, die Gruppen als dynamische Mikro-Systeme betrachtet (u. a. Lewin, Bales). Normen gelten dabei als emergente Eigenschaften sozialer Systeme – sie entstehen aus Interaktionen, nicht aus Vorgaben.
Typische Risiken und Dysfunktionen
Für Führungskräfte:
Gefahr, unausgesprochene „Schattennormen“ zu übersehen
dysfunktionale Routinen (z. B. Konfliktvermeidung) werden unbeabsichtigt verstetigt
Verzerrungen zwischen offiziellen Regeln und gelebter Praxis
Für Mitarbeitende:
Orientierung an widersprüchlichen Normen (formell vs. informell)
Anpassungsdruck an unausgesprochene Erwartungen
Unsicherheit, wie Entscheidungen moralisch oder kulturell legitimiert werden
Für Organisationen:
Übernahme inoffizieller Normen in die gesamte Organisation
Entstehung redundanter Prozesse, die nicht hinterfragt werden
schwache Veränderungsfähigkeit (kulturelle Trägheit)
Norming-Probleme gehören zu den langlebigsten Dysfunktionen – insbesondere, wenn Werte nie explizit verhandelt wurden.
4. Performing – Die Leistungsphase: Systemische Stabilität als Voraussetzung für Flow
In Tuckmans Performing-Phase zeigt sich die Gruppe als arbeitsfähiges, autonomes System. Beziehungen sind stabil, Konflikte werden funktional gelöst, Rollen sind geklärt, und das Team kann sich auf Aufgaben fokussieren.
Wichtig:Viele Teams erreichen diese Phase nicht dauerhaft oder gar nicht – nicht aus Kompetenzgründen, sondern aufgrund ungelöster Vorgängerphasen.
Typische Risiken und Dysfunktionen
Für Führungskräfte:
operative Überlastung, wenn das Team nicht wirklich autonom arbeitet
Engpass-Phänomene („Alle warten auf die Führungskraft“)
geringe Delegationsfähigkeit durch mangelnde Strukturstabilität
Für Mitarbeitende:
Überforderung trotz hoher Motivation
fehlender Flow, wenn Normen inkonsistent bleiben
Burn-out-Risiken bei permanenten „Perform-or-perish“-Anforderungen
Für Organisationen:
ineffiziente Leistung trotz hoher Ressourceneinsätze
stagnierende Innovationsfähigkeit
Abhängigkeit von einzelnen „tragenden Personen“ statt stabiler Systeme
Performing ist kein dauerhaftes Plateau, sondern ein Prozesszustand – und er erfordert strukturelle, normative und relationale Klarheit.
Fazit: Die meisten Teamprobleme sind strukturell erklärbar – nicht individuell verursachtes Fehlverhalten
Ob Konflikte, Belastungsspitzen, ineffiziente Zusammenarbeit, mangelnde Veränderungsfähigkeit oder verdeckte Normen:In nahezu allen Fällen sind die Ursachen systemischer Natur und lassen sich klar in den Entwicklungsphasen eines Teams verorten.
Forming-Probleme: Orientierung fehlt
Storming-Probleme: Konflikte bleiben unbearbeitet
Norming-Probleme: Werte und Regeln sind intransparent
Performing-Probleme: Stabilität fehlt, Flow entsteht nicht
Diese Perspektive entlastet Einzelpersonen und zeigt gleichzeitig auf, wie zentral eine bewusste, reflektierte und wissenschaftlich fundierte Begleitung von Teamprozessen ist.





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